Alte Ernährungsratgeber wiederentdeckt

Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Ernährung

So provokant der Titel ist, so polemisch liest sich das Buch an vielen Stellen auch. Das ist man gewohnt von dem vermutlich federführenden Autor Udo Pollmer, dem man ohnehin nicht in allen Ansichten zustimmen muss. Aber trotzdem entpuppt sich bei kritischer Lektüre "Prost Mahlzeit! Krank durch gesunde Ernährung!" als eine wahre Fundgrube interessanter Betrachtungen über unsere Ernährungsweise und Lebensmittel. Insbesondere auch Schwangere, Stillende und junge Familien erhalten interessante Einblicke.

Für das Buch, das bereits 1994 erschienen ist, haben sich vier Wissenschaftler*innen zusammengefunden, die alle in den Gebieten Ernährung, Medizin und/oder Biologie zu Hause sind. Sie greifen das Thema Ernährung dann sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus historischer Perspektive auf, was grundsätzlich ein fruchtbarer Ansatz mit Potenzial ist. Ziel der Autoren ist es, falsche Mythen über gesunde Ernährung aufzuzeigen und dem, wie sich verstehen lässt, Missbrauch von nur vermeintlich gesundheitsfördernden Zusatzmitteln den Wind aus den Segeln zu nehmen. Und um es vorweg zu nehmen: Hinter dem Titel findet sich kein Plädoyer dafür, sich einer komplett willkürlichen oder ungesunden Ernährung hinzugeben. Vielmehr geht es darum, Missverständnisse in der Debatte um die gesunde Ernährung auszuräumen. Dass manche Thesen dabei heute nicht mehr haltbar sind, tut der Gesamtheit des Buches keinen Abbruch.

Mehr als ein Drittel des Buches macht gleich zu Beginn ein Abriss der falschen oder auch Überbewertung von einzelnen Nährstoffen aus. Auf dem Prüfstand stehen unter anderem Kalorien, einzelne Vitamine und Mineralien sowie Cholesterin. Zu loben ist dabei vor allem der Ansatz, die Nährstoffversorgung nicht isoliert zu betrachten oder einzelne Stoffe als Ergänzungsmittel zuzuführen, sondern alle Stoffe in ihren komplexen Wechselwirkungen wahrzunehmen. 

In der Folge werden die Vollwertkost kritisiert, obwohl auch eingeräumt wird, dass diese sich trotz ihrer Fehlannahmen auch um viele Fortschritte für die Ernährung verdient gemacht hat. Es wird erklärt, wie sich Pflanzen vor Fraßfeinden schützen oder Tiere bei der Verbreitung der Samen belohnen, welche negativen wie positiven Auswirkungen die dafür gebildeten Stoffe für den Menschen haben, und was das für die traditionelle wie für die moderne Küche bedeutet. 

Die Lebensmittelindustrie kommt derweil nicht gut weg, es wird aber sehr verständlich dargestellt, warum diese mit ihren Produkten den Menschen eben doch immer wieder an der Nase herumführt – und warum dies manchmal dann doch nicht klappt. In diesem Zusammenhang wird auch ausführlich erklärt, über welche Mechanismen Genussmittel wie Zucker, Kakao, Tee, Kaffee, Alkohol und Gewürze ihr Suchtpotenzial entfalten. Spannend ist hier auch die Erwähnung von Milch und der Umstand, dass bereits 1994 opiatähnliche Wirkungen und ein Zusammenhang mit Diabetes bekannt waren.

Das düstere Kapitel des Buch behandelt das Thema Übergewicht und Diäten. Annahmen und Aussagen dazu, wie unmöglich oder geradezu schädlich gezielter Gewichtsverlust sei, oder dass der Körper einen bestimmten Setpoint habe, sind absolut nicht haltbar und in anderen Büchern sehr gut widerlegt. Allein der Teil, der sich mit der Sinnlosigkeit von Light-Produkten befasst, ist hierbei wieder gut zu verdauen.

Zum Ende hin entfaltet das Buch aber nochmal seine große Stärke, wenn es detailliert auf Bedürfnisse und physiologische Vorgänge bei Schwangeren, Stillenden, Säuglingen und Kleinkindern eingeht. Hier erfährt man Wichtiges, Überraschendes und gleichzeitig Beruhigendes.

"Krank durch gesunde Ernährung" endet mit einem Resümee, dem wir sehr gut zustimmen können: Gesunde Ernährung zeichnet sich nicht primär durch eine wissenschaftliche Analyse einzelner Nahrungskomponenten aus, sondern durch eine ganzheitliche Herangehensweise. Traditionelles Wissen gilt bisweilen mehr als einzelne neue Erkenntnisse. Es mangele heutzutage nicht an der richtigen Ernährungsweise, sondern an gesunden Lebensmitteln und einem vernünftigen Gebrauch unserer Grundnahrungsmittel.

(ts)