Essen & Gesellschaft

Gesundheits- und Ernährungswahn vs. Verantwortung

(Lesedauer: 4 Minuten)

Die Zeiten, in denen man einfach so essen konnte, so ohne Hintergedanken und voll naiver Unschuld, sind vorbei. Jede Mahlzeit scheint heutzutage ein Statement zu sein, eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Art zu leben – und wenn es auch nur die Entscheidung ist, sich nicht zu entscheiden und bei dem Streben nach der bestmöglichen Ernährung nicht mitzumachen.

Und manchmal scheint es, der Konflikt spitzt sich zu: Auf der einen Seite die wachsende Zahl an Menschen, die sich mit der Ernährung aus gesundheitlichen, ethischen und ökologischen Gründen intensiv auseinandersetzen, auf der anderen Seite die vermehrt aufkommende Kritik an einer kulinarischen Ideologie, die schon – in Anlehnung an das Wort Fundamentalismus – als Foodamentalism bezeichnet wird. Wie kann man sich in diesem Spannungsfeld guten Gewissens verorten? Und mit welchen Argumenten kann man den unkritischen Essern begegnen? Anlass zu diesen Gedanken und Fragen waren eigene Alltagsbeobachtungen als auch ein Radio-Beitrag, der zufällig genau in diese Zeit passte und den man hier als Podcast nachhören kann
Mit dem Wissen wächst der Zweifel
Kritiker einer bewussten Ernährungskultur bemängeln häufig den Wegfall des sorglosen Essens. Wo bleibt der Genuss, das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, wenn alles hinterfragt werden müsse, wenn man ebensoviel Zeit mit der Lektüre der Inhaltsangaben verbringt wie mit dem Kochen oder der eigentlichen Mahlzeit? Nun, die Zeiten sorglosen Konsums sind in einer Gesellschaft, in der Informationen zum einen immer freier zugänglich, zum anderen aber auch immer komplexer und widersprüchlicher werden, vorbei. Darauf, dass die Lebensmittel in einem sinnvollen Kontext produziert werden und verfügbar sind, kann man sich nicht mehr per se verlassen. Eine mögliche Reaktion darauf wäre Resignation. Aber da von der Ernährung wesentliche Aspekte der eigenen Lebensqualität und der anderer Menschen und Lebewesen betroffen sind, wäre so ein Standpunkt arg unverantwortlich und egoistisch.

Womit auch schon ein weiterer Schwachpunkt in der Argumentation der Kritiker angesprochen ist: Der Vorwurf lautet, der Versuch der Optimierung der eigenen Ernährungskultur sei ein extrem hedonistisches und außerordentlich egoistisches Anliegen – investierten frühere Generationen ihre freie Zeit und Energie noch in gesellschaftliche und politische Prozesse, so sorgten sich die Verbesserer heute vielmehr um das eigene Wohl. Doch ist dies zu kurz gedacht. Denn wer mit seiner Ernährung einen Beitrag zu weniger Massentierhaltung, mehr ökologischer Landwirtschaft, weniger Abfall, weniger Essensresten, dem Abbau langer Transportwege, gegen Saatgutmonopole und multinationale Konzerne, gegen Lebensmittelspekulationen und Agrarkolonialismus, und nicht zuletzt zum Erhalt der eigenen Gesundheit leistet, der trägt wesentlich zur Verbesserung von regional bis global greifenden Prozessen bei.
What's good for you is good for the planet.
Dies gilt insbesondere und ausdrücklich auch für das Anliegen, den Einfluss auf die eigene Gesundheit zu optimieren. Der Einwand, die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Krankheiten seien nicht ausreichend wissenschaftlich fundiert, ist angesichts der vielen Studien und Veröffentlichungen nicht haltbar – wenn auch hier zugegebenermaßen immer wieder schwarze Schafe dabei sind. Wer über die Ernährung – und andere Bereiche der Lebensführung – zu seiner Gesundheit beiträgt, der fördert damit direkt und indirekt das Gemeinwohl. Ganz nüchtern betrachtet einfach schon dadurch, dass er weniger Leistungen der Krankenkassen in Anspruch nehmen muss sowie weniger Tage krankheitsbedingt nicht arbeiten kann und somit das Gesundheits- und Sozialsystem entlastet. Und weil er als gesunder Mensch mehr Ressourcen zur gesellschaftlichen Teilhabe zur Verfügung hat.

Nein, wer sich heutzutage bewusst und intensiv mit seiner Ernährung auseinandersetzt, der handelt nicht nur egoistisch, sondern übernimmt Verantwortung, anstatt sie anderen zu überlassen. Gesundheit wird weniger eine Sache des Zufalls und liegt nicht mehr nur im Verantwortungsbereich der Medizin, sondern sie wird ein Bereich eigener Einflussnahme. Und der Bereich der Einflussnahme hört nicht bei der Rettung der eigenen Haut auf, sondern setzt sich im Schutz der Tiere und der natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden und Luft sowie bei der Lebensqualität der Lebensmittelerzeuger fort.

(ts)