Gründe für eine Ernährung auf Basis von Kohlenhydraten

Low Carb oder High Carb?

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Vor einigen Tagen sind wir auf eine aktuelle medizinische Studie mit dem ansprechenden Titel „Energiewende: Pro-Carb statt Low-Carb“ gestoßen, die nahelegt, dass High Carb doch die gesündere Ernährungsform ist als Low Carb. Das hat uns angeregt, ein wenig über das Thema nachzudenken und einen Artikel zu dem Thema zu verfassen. Denn uns scheint, dass in der Sache immer noch viele Halb- und Unwahrheiten kursieren, und dass Studien an Tieren wie die angesprochene eigentlich vollkommen unnötig sind, um Klarheit zu schaffen.

Die ganze High- vs. Low-Carb-Problematik ist eine seit Jahrzehnten andauernde Streitfrage unter Medizinern, Ernährungswissenschaftlern, Diätologen, Ernährungsberatern, Weight-Coaches und Sportlern. Grundsätzlich geht es um die Frage, ob der Mensch mit einer Ernährung, die reich an Kohlenhydraten und relativ arm an Fett und Eiweiß ist, oder mit einer solchen, die reich an Eiweiß und Fett und arm an Kohlenhydraten ist, besser fährt. Die aufgrund von zeitgenössischen epidemiologischen Studien geführte Debatte wurde durch die von der Anthropologie beeinflusste Idee der Paleo- oder Steinzeitdiät nochmal angeheizt.

Eine Zeit lang sah es ganz gut aus für die Befürworter von LCHF (Low Carb High Fat), denn viele Menschen konnten damit gute Erfolge beim Abnehmen erzielen. Zudem verbreitete sich die Meinung, dass der Mensch von seiner Entwicklungsgeschichte eher auf eine fleischreiche Nahrung eingerichtet ist, da nur diese ausreichend Eiweiß liefern würde. Neben Low Carb gibt es auch No Carb, der Unterschied liegt dann in der täglich erlaubten Menge an Kohlenhydraten, die zwischen 5 und ca. 40 g liegt. Dazu kann Fett meist ohne Einschränkung konsumiert werden, Eiweiß nicht unbegrenzt, aber doch recht viel. Hier die Idee: Eiweiß ist der wichtigste Baustoff im menschlichen Körper, lieber zuviel davon als zu wenig.

Eine weitere theoretische Grundlage von LCHF ist, dass der Körper ohne den Verzehr von Kohlenhydraten kein Insulin ausschüttet. Insulin ist vor allem bekannt als zentrales Element im Kohlenhydratstoffwechsel und seine zentrale Rolle bei Diabetes: Es ist sozusagen der Pass, mit dem Zucker in die Körperzellen geschleust wird. Reagieren die Zellen nicht mehr richtig auf das Insulin, oder kommt es zu einem generellen Abfall der Insulinproduktion, gelangt weniger oder kein Zucker mehr in die Zellen, und der Blutzuckerspiegel steigt. Weniger bekannt ist aber, dass Insulin auch benötigt wird, um freie Fettsäuren aus dem Blut in die Fettzellen zu schleusen. Daher die Annahme: Ohne Insulin wird kein Fett angelagert, egal wie viel man isst. Das hat sich mittlerweile aber als nicht ganz richtig erwiesen, denn nicht nur Kohlenhydrate triggern die Insulinausschüttung, sondern auch Fett- und Eiweißkombinationen. Dass viele Leute trotzdem gut abnehmen mit LCHF liegt eher daran, dass sie tatsächlich in eine negative Kalorienbilanz gelangen, obwohl sie gefühlt so viel essen können, wie sie wollen. Denn mit Low Carb darf man halt keine Schokolade mehr, keine Chips, keine Gummibärchen, nicht den Kuchen und auch nicht das Brötchen vom Bäcker. Kurz: Die Nahrungsaufnahme konzentriert sich auf die Hauptmahlzeiten. Die ungesunden Snacks, die die Kalorienbilanz mies machen, fallen weg. LCHF funktioniert also nicht wegen dem geringen Kohlenhydrat- und dem hohen Fett- und Eiweißanteil, sondern weil ein Großteil der ungesunden und kalorienreichen Nahrungsmittel und Naschereien verboten sind. Das gleiche Verbot ließe sich auch mit High Carb einrichten, nur ist das entweder weniger gut umzusetzen, da das generelle und strikte Kohlenhydratverbot ja fehlt, oder es ist einfach nicht sexy genug, um mit dem Image des kraft-vitalen Urmenschen, der sich am Lagerfeuer seine Fleischkeule brät, mitzuhalten.

Doch auch dieses Image basiert nicht auf soliden und verlässlichen wissenschaftlichen Erkenntnissen: Was die Menschen in der Steinzeit aßen, ist nicht in Stein gemeißelt (sorry). Bzw. weiß niemand so genau, was die prähistorischen Menschen aßen, weder in der Steinzeit vor 15.000 Jahren noch in der Frühgeschichte in den Savannen Afrikas. Es existieren lediglich anhand von Artefakten erstellte Theorien, und die Theorie, dass sich der Mensch bis zur Entwicklung der Sesshaftigkeit und des Ackerbaus vorwiegend von Fleisch ernährte, ist äußerst umstritten. Denn vieles spricht dagegen: Pflanzen sind einfacher und gefahrloser verfügbar als Tiere. Essentielle, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (also solche, die der Körper nicht selber herstellen kann, aber zum Überleben braucht und daher mit der Nahrung zuführen muss) kommen, außer in Fisch, nicht oder nur kaum in tierischen Lebensmitteln vor, sondern in pflanzlichen. Gebiss, Verdauungstrakt und Anatomie des Menschen sind eher für den Konsum von pflanzlicher Nahrung geeignet. Allerdings kann man sich auch mit pflanzlichen Nahrungsmitteln nach den Regeln von LCHF ernähren, daher wollen wir die Frage nach der Ernährung mit oder ohne Fleisch hier nicht zu tief verfolgen. Nur als Schlussgedanke: Historische Belege, dass sich der Mensch als primär Fleischessender mittels LCHF ernähren sollte, gibt es nicht! 

Bildquelle: veganbiologist.com/2016/01/04/humans-are-not-herbivores/, abgerufen am 22.12.2016. Anmerkung: Die Vergleiche in dem Bild geben auch Anlass zu Kritik (vgl. Link), sind aber in der Gesamtheit zumindest interessant.

Auf der Gegenseite steht das Modell mit einem hohen Kohlenhydrat- und geringem Fett- und Eiweißanteil (High Carb Low Fat, HCLF), wobei auch hier die prozentualen Aufteilungen der einzelnen Anteile variieren. Standardmodelle rechnen mit 55 % Kohlenhydraten, 30 % Fett und 15 % Eiweiß (jeweils Anteile an der Gesamtkalorienzahl), andere Forscher gehen davon aus, dass ein Kohlenhydratanteil von bis 85 % optimal ist, während Eiweiß bei ungefähr 10 % und Fett bei maximal 5 % liegen sollte. Gestützt wird diese Form der Ernährung immer wieder von Studien wie der bereits angesprochenen. Allerdings handelt es sich dabei um ein Laborexperiment mit wenigen Mäusen. Erstens finden wir Tierversuche generell nicht so toll, zweitens sind solche Experimente immer nur bedingt aussagekräftig für den Menschen. Und daher haben wir uns auch gefragt, warum es noch solche Studien und Tierversuche braucht, die nahelegen, dass der hohe Verzehr von Fett und insbesondere Eiweiß krankheitsfördernd ist, z.B. für Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauferkrankungen, rheumatische und andere autoimmune Erkrankungen, wenn es doch schon längst breit angelegte Studien mit Menschen gibt, die aufzeigen, dass eine kohlenhydratbasierte Ernährung gesundheitsfördernd ist. Zu nennen wären die China Study (1), die über einen langen Zeitraum tausende von Menschen aus der chinesischen Landbevölkerung begleitete und Korrelationen zwischen Lebensstil, Ernährung und Gesundheitsstatus dokumentierte, die zur Therapie von Herz- und Kreislauferkrankungen eingesetzte Ernährung der US-amerikanischen Chirurgen Dean Ornish und Caldwell Esselstyn (2) oder die Okinawa Centenerian Study (2), die die erstaunliche Langlebigkeit der älteren, traditionell lebenden Bevölkerung der japanischen Präfektur Okinawa untersuchte.

Aber auch aus grundlegenden Überlegungen heraus lässt sich für eine Ernährung mit hohem Kohlenhydrat- und geringem Fett- und Eiweißanteil plädieren. Eiweiß wird vor allem als Strukturbaustoff im Körper verwendet, und in keiner Lebensphase erlebt der Mensch ein so großes Massewachstum, also den Aufbau von Struktur, wie im Säuglingsalter: Im ersten halben Lebensjahr verdoppelt sich das Körpergewicht, im gesamten ersten Jahr verdreifacht es sich. In dieser Zeit ist die Muttermilch physiologisch die einzige, oder später noch die primäre Nahrungsquelle. Im Vergleich zu Muttermilch von Tieren wie Kühen, Pferden oder Ziegen weist die menschliche Muttermilch einen relativ geringen Anteil von Eiweiß und Fett auf, den größten Anteil der drei Makronährstoffe machen die Kohlenhydrate aus. Also selbst in einem Lebensabschnitt, der mit einem massiven Aufbau von Körperstruktur einhergeht, ist der Anteil der Kohlenhydrate in der Nahrung der größte, während Eiweiß und Fette relativ gering ausfallen. Es wäre paradox anzunehmen, dass im Erwachsenenalter, wenn der Körper Eiweiß als Baustoff nur noch zum Erhalt der vorhandenen Struktur, und daneben als Funktionsträger z.B. in Form von Hormonen und Neurotransmittern, benötigt, auf eine hohe Eiweißzufuhr angewiesen wäre. Im Gegenteil, im Erwachsenenalter benötigt der Körper vor allem Energieträger, um seine Funktionen aufrecht zu erhalten und Aktivitäten auszuführen, während der Stoffwechsel für Ab- und Neuaufbau von Strukturen immer mehr abnimmt. Als Energieträger bevorzugt der Körper Fette und insbesondere Kohlenhydrate, die er am effizientesten und saubersten in Energie umwandeln kann. Bei einem Überangebot an Eiweißen, die nicht für Struktur und funktionale Stoffe benötigt werden, werden diese in den Energiestoffwechsel mit einbezogen. Dies geschieht allerdings sehr ineffizient, und es fallen giftige Abfallprodukte aus dem in allen Eiweißen enthalten Stickstoff an, insbesondere das stark toxische Ammoniak.

Geht man von einem Eiweißbedarf von täglich ca. 0,8 g pro Kilogramm Körpergewicht aus, wie es in westlichen Ernährungsempfehlungen Standard ist (0,6 g bei geringer körperlicher Aktivität bis 2 g bei hoher körperlicher Aktivität mit hohem Muskelstoffwechsel), so lässt sich dieser mit einer bewussten, pflanzen- und kohlenhydratbasierten Ernährung problemlos erreichen, und zwar selbst bei leichtem kalorischen Defizit, welches als gesundheitsfördernd gilt. Als Beispiel diene ein 1,80 m und 75 kg schwerer, sportlich aktiver Mann, der täglich 1.500 kcal zu sich nimmt. Die täglich empfohlene Menge an Eiweiß wäre hier 75 x 1 g = 75 g. Diese 75 g entsprechen ca. 300 kcal, also 20 % der gesamten Kalorienzufuhr. Gehen wir von einer recht fettarmen Ernährung aus, könnte sich eine Aufteilung ergeben von 20 % Eiweiß, 10 % Fett und 70 % Kohlenhydraten, die trotz Kalorienreduktion und sehr hohem Kohlenhydratanteil den Eiweißbedarf deckt.

Mit einer Ernährung, die viele Hülsenfrüchte und Blattgemüse mit einbezieht, lassen sich diese 75 g Eiweiß täglich ohne Probleme erzielen, und bei der richtigen Kombination mit Kartoffeln und Getreiden auch in einer hohen biologischen Wertigkeit. So bringen es Mahlzeiten wie ein Linsencurry oder Bohnen mit Getreide und Blattgemüse bei ca. 400-500 kcal ohne Probleme auf über 20 g Eiweiß. Beispiel Linsencurry: 80 g Mung Dal (gelbe Linsen) liefern ca.19 g Eiweiß bei 250 kcal, dazu 40 g Dinkel (7 g, 130 kcal), 100 g Kartoffel (2 g, 70 kcal) und 100 g Spinat (3 g, 17 kcal) (3). Im Ergebnis erhalten wir eine Mahlzeit mit ca. 31 g Eiweiß bei 500 kcal (etwas Öl, Zwiebeln und Knoblauch mit eingerechnet). Täglich eine Mahlzeit aus vornehmlich Hülsenfrüchten, ergänzt mit zwei weiteren Hauptmahlzeiten mit viel Gemüse, Getreide und weniger Hülsenfrüchten, liefert demnach problemlos die geforderte Menge an Eiweiß. Bei einem höheren Kalorienbedarf sollte dementsprechend auch nur der Anteil der Kohlenhydrate weiter erhöht werden.

(ts)

1) T. Colin Campbell: Die "China Study" und ihre verblüffenden Konsequenzen für die Lebensführung, Verlag für Ganzheitliche Medizin, 2010, ISBN 3-927344-91-5
2) Beide aus: Dr. med. Ludwig Manfred Jacob: Dr. Jacobs Weg des genussvollen Verzichts: Die effektivsten Maßnahmen zur Prävention und Therapie von Zivilisationskrankheiten, Nutricamedia Verlag, 2013, ISBN 978-3-9816122-3-3
3) Werte abgelesen von www.naehrwertrechner.de, abgerufen am 22.12.2016

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